Was eine Indusi ist, wusste ich schon, bevor ich laufen konnte. Gleiches gilt für die Totmannschaltung. Ich habe schon vor der Pubertät gelernt, dass Lokomotiven wie graziöse Frauen sind. Jede mit ihren ganz eigenen Ansprüchen, jede mit ihrem ganz eigenen Charme.
Ich bin die Tochter eines Lokführers. Und ich bin stolz darauf.
Und ich bin glücklich, dass die erste Ausgabe seiner Erinnerungen ganz oben auf seinem Nachttisch lag, als er seine letzte Fahrt antrat. Ich hoffe und bete dafür, dass er da oben aber noch ein paar Runden auf der Lok drehen darf. Denn er war Lokführer mit Leib und Seele.
Seele. J’ai une âme solitaire. Dieser Satz aus Twin Peaks war für mich auch immer die Beschreibung der Essenz der Seele meines Vaters. Zumeist allein. Aber zugleich auch immer in Verbindung zu Menschen, die er lieben konnte und die ihn liebten.
Deshalb war der Führerstand einer Lok genau das Richtige für ihn. Hier konnte er hundertausende Kilometer zurücklegen, bei Nacht, bei Tag, bei Sonne, bei Sturm. Er durchquerte alles.
Papa fuhr gern bei Nacht. Die Schicht nach Aachen prägte seine letzten Berufsjahre. Ich glaube, er war glücklich, wenn er allein mit sich Kilometer um Kilometer hinter sich brachte. Ich weiß, dass er glücklich war.
Er nutzte auch die Peripherie seiner Bahn. Jahrzehntelang verging nicht eine Samstagnacht vor Muttertag, ohne dass er sie nutzte, um mit Taschenlampe den Bahndamm zu erklimmen, um Mama einen Fliederstrauß zuzsammenzuklauen. Diesem liebevollen Treiben konnte nur der Einsatz von Maschinen und Entlaubungsmitteln ein Ende machen. Schade um den Flieder, schade um die Tradition.
Und auch wenn er es geliebt hat, allein auf der Lok zu sein, so hat er es ebenso geliebt, mit seinen Kollegen zu plaudern. Er war trotz allem ein Mensch, der gern geredet hat, der es geliebt hat, mit Menschen zu interagieren. Und er konnte anpacken. Selbst kurz vor seinem Tod waren seine Hände noch stark. Gestählt von großen Schraubenziehern und vor allem von dem Schaufeln von Tonnen von Kohle. Papa hat gern mit seinen Händen gearbeitet und sie haben ihn bis zu seinem Tod nicht im Stich gelassen.
Ich vermiss dich, Papa, ich vermiss es, nich anrufen zu können und du kommst mit Werkzeug und ner Dose Caramba vorbei. Auch wenn ich dich wegen deines Berufs oft wochenlang kaum zu Gesicht bekommen habe, warst du immer für mich da. Du hast dein Leben lang auf mich aufgepasst, du hast mich immer unterstützt und du warst nicht nur ein verdammt guter Lokführer, du warst ein ebenso guter Vater. Danke für alles.
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